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Hannover, 05.10.2022 | Unternehmen haben oft ein Interesse, ihre Vertriebspartner in bestimmter Weise zu binden, um ihre Position im Markt zu sichern. In der Regel beschränken sie damit den Wettbewerb. Dagegen gilt in der EU der Grundsatz des freien Wettbewerbs, wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen von Unternehmen sind in der Regel unzulässig.

Daher verbietet die EU grundsätzlich alle Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die wettbewerbswidrig sind und den Binnenmarkt verzerren (Art. 101 Abs. 1 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union / AEUV). Eine Ausnahme besteht allerdings für bestimmte Arten von Vereinbarungen, wenn sie für Verbraucher von Vorteil sind. Problematisch ist dabei jedoch, dass jede einzelne Vereinbarung und Handlung individuell beurteilt werden muss. Dies führt zu einem besonderen Maß an Rechtsunsicherheit, die sich in einem hohen Aufwand und Risiko für Unternehmen widerspiegelt.[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row]

Wettbewerbsbeschränkungen im Vertrieb

Ulrich Herfurth, Rechtsanwalt in Hannover und Brüssel
Sara Nesler, Mag. iur. (I), LL.M., Hannover

Die Gruppenfreistellungsverordnungen

Um die Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit zu erhöhen, erlässt die Europäische Kommission Gruppenfreistellungsverordnungen (Art. 103 AEUV) und legt damit die Bedingungen fest, unter denen bestimmte Arten von Vereinbarungen in bestimmten Marktsektoren grundsätzlich als wettbewerbsrechtskonform gelten. Für solche Vereinbarungen schafft eine GVO eine Art „sicheren Hafen“. Insgesamt bestehen derzeit sechs Gruppenfreistellungsverordnungen: Spezialisierungsvereinbarungen, Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen, Versicherungsbranche, Technologietransfervereinbarungen, Kraftfahrzeugersatzteile und vertikale Vereinbarungen.

 

Die neue Vertikal-GVO 2022

Die Gruppenfreistellungsverordnung über Vertikalvereinbarungen (Vertikal-GVO) hat die EU nun zum 1. Juni 2022 aktualisiert, begleitet von den neuen ergänzenden Leitlinien.

Die neue Vertikal-GVO schafft ebenso wie die bisherige eine Ausnahme vom Grundsatz des Verbots von Wettbewerbsbeschränkungen für bestimmte vertikale Vereinbarungen, also zwischen Unternehmen, die auf verschiedenen Ebenen der Produktions-, Liefer- und Vertriebskette tätig sind.

Die aktualisierte Version der Verordnung enthält mehrere Änderungen, die eine Anpassung der Vertriebsmodelle von Unternehmen erfordern oder erlauben könnten.

Im Gegensatz zu anderen Gruppenfreistellungsverordnungen ist die Vertikal-GVO branchenunabhängig anwendbar. Das Verbot von Wettbewerbsbeschränkungen in vertikalen Vereinbarungen gilt nicht, wenn keine der Parteien einen Marktanteil von 30 % auf dem relevanten Verkaufs- und Einkaufsmarkt überschreitet. Für die Verletzung von Kernbeschränkungen (Art. 2 Vertikal-GVO) gilt diese Bagatellregelung jedoch nicht.

 

Beinhaltet der Vertrag eine Kernbeschränkung, ist der gesamte Vertrag von der Gruppenfreistellung ausgeschlossen und eine Einzelprüfung wird notwendig.

Enthält ein Vertrag eine solche Vereinbarung, kann damit der Vertrag insgesamt unwirksam werden. Unternehmen sollten daher ihre bestehenden Verträge prüfen und bei Bedarf anpassen, neue Verträge sollten entsprechend rechtskonform gestaltet werden.

Zusätzlich enthält die Vertikal-GVO eine Liste von sogenannten „grauen Klauseln“, die in einer Einzelprüfung untersucht werden müssen (Art. 5 Vertikal-GVO). Der Ausschluss von der Gruppenfreistellung erstreckt sich jedoch nicht auf den gesamten Vertrag, sondern betrifft nur die einzelne Klausel. Auch graue Klauseln sollten regelmäßig kontrolliert und gegebenenfalls angepasst werden.

Die wichtigsten Neuerungen der Vertikal-GVO sind im Folgenden dargestellt. Dies dient der Übersicht und ersetzt keine individuelle Beratung.

 

Wichtigste Neuerungen: Anwendungsbereich

Dualer Vertrieb 

Verkauft ein Anbieter seine Waren sowohl über unabhängige Händler als auch direkt, kann er durchaus mit seinem Händler im Wettbewerb stehen.

Unter der alten Vertikal-GVO waren vertikale Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern generell von der Gruppenfreistellung ausgenommen, mussten also individuell auf ihre Zulässigkeit überprüft werden. Der duale Vertrieb war dagegen durch die Vertikal-GVO zugelassen.

 

Mit der neuen Regelung ist der duale Vertrieb zwar weiterhin grundsätzlich freigestellt. Besondere Vorsicht gilt aber beim dualen Vertrieb im Zusammenhang mit der Bereitstellung von Online-Vermittlungsdiensten (OIS), z.B. durch hybride Plattformen, sowie beim Austausch bestimmter Informationen zwischen Anbietern und Abnehmern.

 

Wichtigste Neuerungen zu Kernbeschränkungen

OIS

Betreiber von Online-Vermittlungsdiensten (OIS) gelten nach der neuen GVO als Anbieter. Preis-, Gebiets- und Kundenbeschränkungen, die ein dual vertreibender OIS-Anbieter den Abnehmern seiner Dienste auferlegt, gelten nun als Kernbeschränkungen und sind damit unzulässig.

 

Dual Pricing

Unter der alten Vertikal-GVO und deren Leitlinien war das sogenannte „dual pricing“ eine Kernbeschränkung. Ein Anbieter (z.B. Großhändler) durfte also nicht für den Online-Verkauf und für den stationären Verkauf unterschiedliche Preise von den Abnehmern verlangen.

Aus Sicht des europäischen Gesetzgebers ist der Schutz des Online-Handels in dieser Hinsicht nicht mehr erforderlich, und dual pricing ist jetzt erlaubt.  Eine Änderung der eigenen Vertriebsstruktur ist dementsprechend möglich.

Zu beachten ist aber, dass die Preisunterschiede im angemessenen Verhältnis zu den Kostenunterschieden zwischen Online- und Offline-Kanälen liegen müssen. Ziel der Preispolitik darf also nicht sein, den Verkauf auf bestimmte Gebiete oder Kunden zu beschränken oder die Nutzung des Internets praktisch zu verhindern.

Der Anbieter darf weiterhin seinen Abnehmern nicht vorschreiben, dass dessen Verkaufspreise je nach Vertriebskanal höher oder niedriger sein müssen.

 

Einschränkung des Online-Verkaufs 

Anders als die alte Vertikal-GVO benennt die neue GVO ausdrücklich die Verhinderung der effektiven Nutzung des Internets durch Abnehmer oder deren Kunden zum Verkauf von Dienstleistungen oder Waren als Kernbeschränkung. Mildere Maßnahmen können zulässig sein, z.B. solche, die die Qualität des Online-Shops des Händlers sicherstellen sollen oder Anforderungen wonach der Händler ein oder mehrere stationäre Geschäfte betreiben oder ein Mindestvolumen an Offline-Verkäufen erreichen muss. Das bedeutet für Unternehmen, dass derartige einschränkende Vereinbarungen im Sinn der Klarstellungen der neuen GVO und deren Leitlinien überprüft werden müssen, um die Wettbewerbswidrigkeit einer solchen Vereinbarung  auszuschließen.

 

Exklusive und selektive Vertriebssysteme

In der neuen GVO werden Vorschriften über alleinige (exklusive), selektive und sonstige Vertriebssysteme strukturell stärker differenziert. Im Grunde bleiben die Vorschriften jedoch ähnlich. So sind z.B. eine Beschränkung des Niederlassungsorts des Abnehmers oder ein Verbot des Verkaufs an Endverbraucher durch einen Abnehmer auf der Großhandelsstufe weiterhin zulässig.

Als Neuerung darf der Anbieter nun bis zu fünf Exklusiv-Händler in einem bestimmten Gebiet oder für eine bestimmte Kundengruppe einsetzen, bislang durfte er nur einen einsetzen.

Von praktischer Bedeutung ist auch, dass nun die jeweils zulässigen Einschränkungen von aktiven oder passiven Verkäufen an geschützte Kundengruppen oder Gebiete auf die zweite Vertriebsebene (bisher nur die erste) erstreckt werden können. Zu beachten sind dabei die Definitionen von aktiven und passiven Verkäufen in der neuen Vertikal-GVO. Besondere Vorsicht ist bei der Einstufung des Betriebs von Webseiten geboten.

 

Verbot des Vertriebs über Online-Marktplätze 

Bereits im Jahr 2017 hatte der EuGH klargestellt, dass Anbieter von Luxusgütern ihren Händlern im selektiven Vertriebsnetz verbieten dürfen, die Vertragswaren über Plattformen Dritter zu verkaufen. Dies sei keine verbotene Wettbewerbsbeschränkung.

Die neue Vertikal-GVO fixiert diese Lockerung des „Äquivalenzprinzips“ zwischen Offline- und Online-Verkäufen nun gesetzlich. Demnach darf der Anbieter seinen Händlern generell den Verkauf über Online-Marktplätze als Vertriebskanal verbieten, nicht jedoch ganze Werbekanäle wie z.B. Suchmaschinen oder Preisvergleichs-Websites. Dies bleibt eine unzulässige Kernbeschränkung.

 

Exklusiver + selektiver Vertrieb

Die neuen Regeln erlauben weiterhin die Kombination von selektivem und exklusivem Vertrieb in verschiedenen Gebieten innerhalb der EU (z.B. selektiv in Spanien und exklusiv in Frankreich). Ein Schutz der unterschiedlichen Vertriebsformen voreinander bleibt zulässig, insbesondere dürfen Einschränkungen nun auch auf die zweite Vertriebsebene ausgedehnt werden. Die Kombination eines exklusiven und eines selektiven Vertriebssystems in ein und demselben Gebiet fällt nach wie vor nicht unter die Gruppenfreistellung.

 

Preisvorgaben  

Sowohl unmittelbare als auch mittelbare Maßnahmen zur Preisbindung gegenüber den Vertragshändlern („zweite Hand“) bleiben untersagt.

Verhandelt ein Anbieter direkt mit dem Kunden, z.B. eine Handelskette, darf er einen Händler seiner Wahl einschalten, der die Waren zu diesem bestimmten Preis an den Kunden liefert. Voraussetzung ist, dass der Kunde nur an diesen Händler gebunden ist und keinen anderen Händler wählen kann.

Dem Anbieter ist weiterhin gestattet Höchstverkaufspreise festzusetzen und Preisempfehlungen auszusprechen.

 

Wichtigste Neuerungen: graue Klausel

Wettbewerbsverbote

Wettbewerbsverbote und Klauseln, die den Käufer zwingen, mehr als 80 % seiner gesamten Einkäufe der Vertragswaren vom Lieferanten zu beziehen, sind weiterhin nicht freigestellt, wenn die Laufzeit mehr als fünf Jahre beträgt. Stillschweigend verlängerbare Verpflichtungen sind nun aber freigestellt, wenn der Abnehmer nach fünf Jahren den Vertrag tatsächlich neu aushandeln oder kündigen kann.

 

Meistbegünstigungsklausel

Mit einer Meistbegünstigungsklausel (oder Paritätsverpflichtung) wird ein Unternehmen verpflichtet, seinem Vertragspartner die gleichen oder bessere Bedingungen als auf anderen Absatzmärkten anzubieten. Die alte Vertikal-GVO sah eine vollständige Freistellung für alle Paritätsverpflichtungen vor.

Gemäß der neuen GVO fallen hingegen „weite Paritätsklauseln“ nicht mehr unter die Gruppenfreistellung. Dabei handelt es sich um Vereinbarungen, mit denen eine Online-Plattform ihren Händler oder Anbieter daran hindert, dasselbe Produkt auf anderen Einzelhandelsplattformen zu besseren Bedingungen oder einem niedrigeren Preis anzubieten.

Alle anderen Paritätsklauseln (die sich auf den eigenen Vertriebskanal des Anbieters beziehen) sind weiterhin freigestellt. Diktiert eine Plattform ihren Anbietern aber enge Paritätsklauseln, die einen erheblichen Anteil der Nutzer abdecken, ohne dass die Effizienz nachgewiesen ist, kann die Freistellung entzogen werden.

 

Ausblick

Unternehmen, insbesondere solche mit Online-Vertrieb, sollten ihre bestehenden und künftigen Vertriebsverträge rechtlich überprüfen.

Zusätzlich ist zu empfehlen, sich trotz der Komplexität der Materie ein fundiertes Bild der neuen GVO zu verschaffen – die Änderungen und Klarstellungen der neuen Vertikal-GVO und der ergänzenden Leitlinien können durchaus neue Möglichkeiten für das eigene Vertriebsmodell eröffnen.

 

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